I will review Virginie Despente’ “Liebes Arschloch” (Original Title: Cher connard) in German because a publisher kindly provided me with a German review copy of the book. However, you can find an English book review on the second page of this post.
Fast drei Jahre ist es her, dass ich das erste Mal ein Buch von Virginie Despentes gelesen habe. An ihrem Essay „King Kong Theorie“ hat mich vor allem die wütende und polemische Schreibweise begeistert. Ihr neuer Roman „Liebes Arschloch“ schlägt – obwohl der Titel anderes verheißen mag – sanftere Töne an. Er erzählt die Geschichte einer widerwilligen Freundschaft zwischen Rebecca und Oscar
Rebecca, knapp 50, ist eine alternde Star-Schauspielerin, die inzwischen Probleme hat Arbeit zu finden und mit ihrer ruppigen Art kein Blatt vor den Mund nimmt. Oscar, Anfang-Mitte 40, ist ein selbstmitleidiger Schriftsteller, der mit seiner Vaterrolle überfordert ist und sich als unschuldiges Opfer von #MeToo sieht. Beide kommen aus denselben Verhältnissen und beide sind seit Jahrzehnten süchtig.
Nachdem Oscar einen abfälligen Social-Media-Post über Rebecca veröffentlicht, beginnen die beiden einander (zunächst feindselige) Mails zu schreiben. Langsam entwickelt sich jedoch so etwas wie Sympathie zwischen den beiden und schließlich sogar Freundschaft. Unterbrochen wird ihr Schriftwechsel immer wieder von Zoë, einer feministischen Bloggerin, deren Texte die klassische Struktur des Briefromans aufbrechen. Zoës Posts über Oscar treten einen Online-Diskurs los, der das Leben der beiden nachhaltig verändert.
Anhand des Schicksals dieser drei Figuren – Rebecca, Oscar, Zoë – verhandelt Despentes die Themen, die in den letzten Jahren den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt haben: #MeToo, Social Media, Feminismus, Shit Storms, Online-Mobbing, Technologie, Covid, mentale Gesundheit – und sogar autofreie Städte finden in „Liebes Arschloch“ ihren Platz. Eine zentrale Rolle spielt das Thema Sucht – die Sehnsucht nach dem Exzess und der Versuch, clean zu werden – das die beiden Hauptfiguren auf ihrem Lebensweg begleitet.

Durch die Entwicklung von Rebeccas und Oscars Freundschaft beginnen sie, sich einander zu öffnen, und bieten so ihrem gegenüber (und den Lesenden) langsam mehr und mehr Einblicke in ihr Innenleben. Als würde sie die Schalen einer Zwiebel Schicht um Schicht zurückziehen, zeigt Despentes uns langsam das, was diese Personen ausmacht. Das ist spannend zu lesen, denn es entlarvt ihre unzuverlässigen Erzählstimmen und macht die Figuren greifbarer und alles andere als eindimensional.
Trotzdem wirkte die Erzählung auf mich teilweise etwas plakativ bei ihrem Versuch, durch die Briefe ihrer Figuren (fast) alle relevanten gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre abzudecken. Die Auflösung des Romans war für meinen Geschmack einen Hauch zu märchenhaft und idealistisch. Die Übeltäter werden geläutert, die Kranken werden gesund – und am Ende ist zwar nicht alles gut, aber immerhin doch ein bisschen besser als zuvor.
In „Liebes Arschloch“ steht neben allem Frust über toxische Diskussionskultur und gesellschaftliche Krisen vor allem eins vorne: Die Hoffnung, dass es doch irgendwie noch besser werden kann – und wenn auch nur bei Einzelfällen oder im privaten Umfeld. Aber das ist ja bekannterweise auch politisch.
Ich hatte vor der Lektüre erwartet, dass „Liebes Arschloch“ ein wütenderer Roman ist, dass Despentes etwas mehr auf den Putz haut. Stattdessen hatte die Geschichte etwas Versöhnliches. Und auch wenn ihre Auflösung meinen persönlichen Lesegeschmack nicht unbedingt getroffen hat, so können nach den letzten Jahren etwas Idealismus und die Hoffnung, dass Besserung möglich ist, bestimmt nicht schaden.
Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Leseexemplar! Hier könnt ihr mehr über “Liebes Arschloch” erfahren und hier findet ihr meine Review von Virginie Despentes’ Buch “King Kong Theorie”.
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